Ausgabe Juni / Juli / August 2019 – Johannes Stockmayer, Metzingen, Gemeinde- und Konfliktberater

Die kleine Pflanze „Vertrauen“

„Jetzt haben wir einander vergeben, uns die Hände geschüttelt und erklärt, dass wir uns nicht mehr böse sind, dann haben wir sogar das Abendmahl miteinander gefeiert – aber nun muss ich feststellen, dass der andere sich nicht verändert hat.“

Wir können nicht davon ausgehen, dass mit einer Versöhnung alles gut ist und der andere das tut, was wir von ihm erwarten. Versöhnung ist die Grundlage dafür, dass wir uns verständigen: Was soll sich verändern? Die Beziehungsebene wurde durch die Vergebung und das Abendmahl repariert, nun müssen wir auf der Sachebene erarbeiten, was zwischen uns neu werden muss. Mogeln wir uns um diese Arbeit herum, bleibt alles doch beim Alten. Die Arbeit heißt: Es soll besser werden als vor dem Zeitpunkt, als es zu unserem Zerwürfnis kam. Es ist ratsam, bei diesen Überlegungen einen neutralen Dritten dazu zu nehmen, sonst besteht die Gefahr, dass man wieder in die alten „Rillen“ kommt. Jetzt gilt es, möglichst sachlich und hörend miteinander zu re- den: Was will ich und was willst du? Wie finden wir zu einem neuen, guten Miteinander?

Außerdem ist es wichtig, nach einem Streit und der erfolgten Versöhnung in der nächsten Zeit vorsichtig und behutsam miteinander umzugehen. Wie nach einer Krankheit müssen die Verletzungen erst ausheilen, neue positive Erfahrungen das Misstrauen ersetzen. Vielleicht beschränkt man sich eine Zeit lang auf einen höflichen, freundlichen, aber distanzierten Umgangsstil und geht allen Grundsatzfragen aus dem Weg. Das Neue braucht oft Zeit und einen Schutzraum, damit das kleine Pflänzchen des Vertrauens ungestört aufwachsen kann.

Ich gehe den ersten Schritt

Aber was ist, wenn der andere gar nicht einsieht, dass er etwas tun soll? In diesem Fall müssen wir uns eingestehen, dass wir ihn nicht verändern, ja ihn nicht einmal zu einer Einsicht bringen können. Der einzige Mensch, den ich verändern kann, bin ich. Das heißt: Ich gehe den ersten Schritt. Ich bin bereit, das zu tun, was dem anderen dient – damit er den Freiraum zur Umkehr bekommt. Gleichzeitig unterlasse ich alles, was ihn provoziert und ärgert. Ich signalisiere ihm, dass ich ihn annehme, wie er ist (auch wenn mir das schwerfällt). Ich denke Gutes über ihn und behandle ihn so, wie ich möchte, dass er mich behandelt (Matthäus 7,12). Das bringt ihn vielleicht dazu, sich zu verändern – denn dadurch lege ich ihn nicht auf die Position eines Gegners fest. Wenn ich Gutes von einem Menschen denke, gebe ich ihm die Möglichkeit, gut zu werden. Meine Entscheidung heißt: Ich mache alles, um den anderen zu gewinnen. Ich erwarte nichts von ihm, aber tue, was mir möglich ist (Römer 12,18).

Überhaupt: Wer gibt mir das Recht, einen anderen zu bewerten? Bin ich denn der Nabel der Welt? Ist meine Sicht die einzig richtige? Es weitet meinen Blickwinkel, wenn ich versuche, den anderen Menschen, der so ganz anders denkt als ich, zu verstehen. Ich übernehme sei- ne Perspektive und bemühe mich, die Lage mit seinen Augen zu sehen. Wenn ich mich in seine Situation hineinversetze, verstehe ich ihn von „innen“ – und ich erkenne dabei, dass er Recht hat, zumindest aus sei- ner Warte. Genauso wie ich das Recht haben möchte, meine ei- gene Meinung zu vertreten, so gebe ich auch dem anderen das Recht zu seiner eigenen Ansicht. Sie muss ja nicht meine werden. Ich stelle einfach fest, dass wir unterschiedlich sind.

Wir bleiben unterschiedlich

Denn trotz aller Versöhnungs- versuche bleiben wir unter- schiedliche Menschen, mit unterschiedlichen Sichtweisen. Wir können uns nur gegenseitig akzeptieren: „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat!“ (Römer 15,7). Dadurch wird Gott gelobt! Und vielleicht hat mir Gott den schwierigen Mitmenschen zur Seite gestellt, um mich in Nächstenliebe zu trainieren. Genau ihn soll ich annehmen, lieben, ihm Gutes tun und für ihn da sein. Weil Jesus mich barmherzig anblickt, kann ich dem andern ebenso mit Barmherzigkeit begegnen. Weil Gott sich mir freundlich zuwendet, will ich es auch tun – egal, wie der andere sich verhält. Der schwierige Mensch ist meine Aufgabe: Ich soll ihn lieben! Und vielleicht ist es meine unvoreingenommene Liebe, die ihn zur Umkehr führt.

Das bedeutet, dass wir unsere Erwartungen, Ansprüche, Bedürfnisse und Forderungen an den anderen loslassen und ihm ganz frei und offen begegnen: Gott wird sich um ihn kümmern! Gott kennt sein Herz und weiß, was er benötigt. Gott wird ihm auf seine Weise Selbsterkenntnis geben – so wie er es verstehen kann. Wenn ich denke, ich müsste den schwierigen Mitmenschen überzeugen, pfusche ich Gott ins Handwerk und trage dazu bei, dass sich der andere in seinem Herzen verhärtet, sich zurückzieht und einigelt. Meine Aufgabe ist, für ihn zu beten und ihn zu segnen (Römer 12,14).

Ich darf mich zurückziehen
Und wenn alles nichts hilft und die Versöhnung trotz aller Versuche nicht zur Veränderung führt? Dann darf ich mich zurückziehen und mir sagen, dass ich alles getan habe, was möglich war, um Frieden zu halten. Nun entscheide ich mich, dem anderen aus dem Weg zu gehen. Ich gebe ihm keine Möglichkeit mehr, mich zu ärgern oder herauszufordern. Ich grüße ihn freundlich, mache aber einen Bogen um ihn. Ich vermeide das Gespräch – vor allem in den Bereichen, wo es wieder kontrovers werden könnte. Ich beschränke den Kontakt zu ihm auf ein Minimum. Das ist besser als ständige Querelen, die nichts bewirken, sondern nur bitter und müde machen. Ich wende mich bewusst dem Guten zu und schaue auf das Schöne, Aufbauende und mache mir klar: Ich muss nicht immer recht haben. Ich muss nicht in jedem Fall der Sieger sein. Gott ist größer als die Schwierigkeiten, die wir nicht miteinander bewältigen können.