Ausgabe Dezember 2019 Januar / Februar 2020 – Susanne Breit-Keßler, München Regionalbischöfin Kirchenkreis München und Oberbayern; Ständige Vertreterin des Landesbischofs

Die Würde des Menschen verlangt es, dass Menschen autonome, selbständige Subjekte ihres Denkens, Redens und Handelns sind oder werden – auch, wenn sie sich in schwierigen materiellen, körperlichen, geistigen oder seelischen Situationen befinden. Das ist notwendige Konsequenz des jüdisch-christlichen Menschenbildes. Und es ist in die Erklärung der Menschenrechte eingegangen, ist Bestandteil unserer demokratischen Verfassung.

Menschenwürde ist Zusage Gottes.
Dort, wo Kirche und Diakonie sich nicht daran gehalten haben, war das ´Sünde´, die größte Bußfertigkeit auf unserer Seite erfordert. Wohl auch deswegen sind wir so empfindlich, Die Würde des Menschen wenn heute etwa von abgestuftem Lebensschutz bei allerkleinsten Menschen gesprochen wird. Wenn gar von „lebensunwertem“ Leben die Rede ist, eine Diktion, von der man wissen muss, aus welch gnadenlosem Nazi-Kontext sie stammt.

Gott hat die Menschen nach seinem Bilde geschaffen, steht am Anfang der Bibel (1.Mose 2,27). Er hat sie wenig niedriger gemacht als sich selbst, sagt der Beter eines Psalms (Psalm 8). Das sind die Eckdaten unseres Daseins: Mann und Frau, gleich und hoch eingeschätzt, als Partner und Partnerinnen Gottes mit dem Auftrag, ihr Leben in gegenseitigem Respekt gemeinsam in die Hand zu nehmen, für sich und andere zu sorgen.

Menschenwürde, lebenswertes Leben – was heißt das in einer Gesellschaft, in der Bilanzen und Börsenkurse, Wirtschaftsprognosen und Globalisierung, Erfolg und Karriere, dazu Vitalität und Schönheit oft im Vordergrund stehen? In der Kinder, Jugendliche, Männer und Frauen, Menschen sich passend machen müssen, damit sie passen und nicht aus der gesellschaftlichen Anerkennung und Begleitung herausfallen, weil sie nicht der Norm nicht entsprechen?

Marktkriterien?
Der in der Bibel geäußerte Satz der Hohenpriester, es ist besser, dass ein Mensch stürbe, bevor das ganze Volk verderbe, erfährt immer wieder neue, aber keine überzeugende Aktualität. Es ist ethisch nicht verantwortbar, Leben utilitaristisch (aus Nützlichkeitsdenken) zu töten, um auf diese Weise – noch dazu völlig ungewisse – Möglichkeiten zur Rettung von Leben zu erforschen oder Familien und Gesellschaften vor einem vermeintlichen Schaden zu bewahren.

Die üblichen Marktkriterien sind kein Maßstab für menschliches Handeln. Eine am scheinbaren Wohlleben und „lebenswertem“ Leben orientierte Gesellschaft hat nichts mit der Würde des Menschen zu tun. Ärzte, Schwestern, Pflegende dürfen nicht zu Erfüllungsgehilfen eines zackigen Reparatur- oder gar Abfallsystems degradiert werden. Es kann nicht darum gehen, Menschen als Problemfälle zu denunzieren mit dem Ziel, diese Defizienzmodelle als mangelhaft auszusortieren.

Selektion
Präimplantationsdiagnostik, mit deren Hilfe bestimmte befruchtete Eizellen vernichtet werden, weil sie „krankes“ oder „behindertes“ menschliches Leben entwickeln würden, bedeutet Selektion. Pränataldiagnostik, die nahezu automatisch praktiziert wird, hat ebenfalls Schattenseiten. Die meisten Frauen werden wie selbstverständlich diesen Untersuchungen ausgesetzt, setzen sich auch selbst aus – oft, ohne dass sie über Folgen hinreichend aufgeklärt wurden. Die Pränataldiagnostik müsste mit strengen – dem Gesetzeswortlaut entsprechend tatsächlich „medizinischen“ und eben nicht faktisch embryopathischen – Kriterien und möglichst mit Beratungspflicht verbunden werden. Was passiert sonst? Jeder ist angeblich seines Glückes Schmied – und demzufolge selber schuld, wenn etwas „danebengeht“. Diese Einschätzung befördern pränatale Tests, die zur quasi zwingenden Selbstverständlichkeit gemacht werden.

Freiheit zur Barmherzigkeit
Wir haben die Freiheit zur Barmherzigkeit. Menschen sind immer auch unabhängig von dem zu sehen, was sie zu leisten vermögen. Wir sind „gerechtfertigt allein aus Gnaden“. Die Vertreter der sogenannten Herrenrasse haben die Akzeptanz von Menschen von an Dummheit und Gemeinheit nicht mehr zu überbietenden Maßstäben abhängig gemacht. 200 000 Menschen mit Behinderungen wurden getötet.

Angeborene Genveränderungen sind nicht heilbar. Sie sind, so darf man das auch sehen, keine Krankheiten, sondern unterschiedliche Genprogramme, die für die Menschen, die sie tragen, normal, wenn auch selten sind. Wie wäre es, wenn man nicht Defekte, sondern unterschiedliche genetische Normalitäten konstatieren würde? Ein Kind, das sich anders entwickelt als gewohnt und erwartet, hat eigene Entwicklungschancen. Wer von Defekt spricht, diskriminiert andere. Er verursacht soziale Behinderungen, die vermeidbar wären – und „sorgt“ dafür, dass ein Kind sich nicht entsprechend seiner Möglichkeiten entwickeln kann. Kinder mit Behinderungen können am sozialen Leben teilnehmen und dazu beitragen, auch wenn sie anders verstehen, sprechen und sich bewegen wie andere. Sie haben ein selbstverständliches Recht auf ihr Dasein.

Wahres Leben
Unsere ganze Gesellschaft muss, darf und soll diese Kinder annehmen, willkommen heißen und sie mit ihren Gaben und Fähigkeiten unterstützen und fördern. Es gibt keine ideale Existenz, kein Leben ohne Wunden und Verletzungen, ohne innere oder äußere Narben. Was so oft in unserer Gesellschaft als Defizit, als Einschränkung verachtet wird, ist wahres Leben. Nicht immer leicht, manchmal entsetzlich schwer und nur mit fremder Hilfe zu tragen.

Aber es ist bei Gott wertvolles und von ihm angesehenes Leben. Ich bin überzeugt davon, dass wir das, was vermeintlich halt so ist, wie es ist, mutig überschreiten können. Überschreiten, überwinden in Richtung auf das hin, was in Gottes Namen noch alles veränderbar und an Gutem für uns und unsere Mitmenschen möglich ist. Alle miteinander können und dürfen wir mehr sein, als wir sind. Auch das ist Würde.