Ausgabe Oktober / November 2017 – Rainer Hübner, Regensburg

 

In der Regel werden in einer Gemeinde die für sie weg- weisenden Entscheidungen einvernehmlich getroffen (vgl. Apg 13,1-3; Apg 15,25: „einmütig beschlossen“). Paulus hat dies auch anerkannt. „Einsame Entscheidungen“ dominanter Leiter, die die ganze Gemeindearbeit beeinflussen, führen häufig zur Spaltung.

 

Dennoch ist es möglich, das sich jemand aus einer inneren Gewissheit („Gewissensgründen“) heraus gegen die Mehrheitsmeinung der Glaubensgeschwister (die auch den Heiligen Geist haben) entscheidet. Apg 21,10-14 zeigt uns dazu Kriterien.

1. Hintergrund: Auf dem Weg nach Jerusalem
Paulus ist mit seinem Missionsteam von griechischer und kleinasiatischer Herkunft (Apg 20,4) nach Jerusalem unterwegs. Zum Pfingstfest im Jahr 57 n. Chr. will er dort sein (Apg 20,16). Während dieser dritten Missionsreise stärkte er die jungen Gemeinden in den kleinasiatischen und griechischen Gebieten. Anschließend sollte ihn von Jerusalem aus eine vierte Missionsreise über Rom nach Spanien bringen (Röm 15,28). Mit dem Schiff von der Westküste Kleinasiens über das Mittelmeer in Tyrus gelandet, marschiert das Missionsteam zu Fuß an der Küste entlang über Ptolemais nach Cäsarea, eine prächtige Hafenstadt und der Hauptverwaltungssitz von Judäa. Wie schon in den anderen Städten treffen sie auch hier die Christen vor Ort. Der Diakon und Evangelist Philippus (Apg 6,5; 8,4-40) beherbergt sie. Während dieser Zeit sucht Agabus, ein altgedienter (Apg 11,28- 29) Prophet, das Missionsteam auf. Agabus kommt aus der Gegend von Jerusalem oder direkt aus dieser Stadt, die sich in den letzten Jahren zu einem politisch-religiösen Pulverfass entwickelt hat. Unbesonnene militärische Aktionen der verhassten römischen Unterdrücker schüren die nationalistischen Tendenzen der Juden. Mordanschläge der nationalistischen Zeloten auf Landsleute, die mit den „Heiden“ zusammenarbeiteten, waren an der Tagesordnung. Selbst viele Judenchristen fühlten sich mit den zelotischen Nationalisten verbunden (Apg 21,20). Nur wenige Jahre nach der Ankunft des Paulus in Jerusalem wird der jüdisch- römische Krieg ausbrechen (66 n. Chr.), der mit der Zerstörung Jerusalems einschließlich des Tempels katastrophal endet.

2. Die „einsame Entscheidung“ des Paulus
(1) Agabus kündigt nach Art der alttestamentlichen Propheten in einer eindrücklichen Zeichenhandlung an, dass Paulus in Jerusalem gefangen genommen und an die Römer ausgehändigt werde. Welche Konsequenz soll aus dieser „Vorschau“ gezogen werden? Der Prophet selbst gibt keine Anweisung von Gott, wie Paulus sich verhalten soll.
(2) Für seine Mitarbeiter und die Christen vor Ort war es klar: Sie bitten Paulus inständig, Jerusalem zu meiden. Man kann die Sorge um Paulus nachempfinden. Sie möchten ihn vor einem leidvollen Gefängnisaufenthalt bewahren. Außerdem würden sie mit ihm den bedeutendsten christlichen Leiter der nichtjüdischen Welt „verlieren“.
(3) Die eindringlichen Worte der Geschwister gehen Paulus nahe und machen für ihn die Entscheidung schwer.
(4) Paulus selbst ist sich gewiss („gebunden im Geist“, Apg 20,22): Jerusalem ist das Ziel meiner Reise. Er muss die Glaubensgeschwister in dieser Stadt besuchen. Deshalb lässt er sich nicht von den flehenden Bitten davon abhalten.
(5) Wie Paulus zu dieser inneren Gewissheit kommt, wird im vorliegenden Text nicht erwähnt, könnte aber damit zusammenhängen: Die finanzielle Unterstützung der griechischen Gemeinden wollte er der Jerusalemer Urgemeinde selbst überbringen (Röm 15,25-26; Apg 24,17). Mit dieser Geste und durch seinen persönlichen Bericht sollte deutlich werden, wie sich die Christen aus den nichtjüdischen Gemeinden mit der judenchristlichen Gemeinde in Jerusalem verbunden wissen. Der wachsenden Unmut, den viele Judenchristen gegenüber seiner Mission unter den Heiden hatten (vgl. Apg 21,19- 22), erhoffte er damit zu überwinden. Dass er dringlich zum Pfingstfest in Jerusalem sein wollte, sollte möglicherweise dem Schein entgegen wirken, er würde die hohen jüdischen Feste absichtlich versäumen.
(6) Paulus ahnte selbst, dass in Jerusalem Schweres auf ihn zukommen wird (Apg 20,22-23). Er war bereit, Leiden und sogar Tod auf sich zu nehmen, wenn es sein Dienst für Jesus Christus erfordert(Apg 20,24).
(7) Da Paulus sich nicht umstimmen lässt, halten die Geschwister inne und legen ihre Vorstellungen und Paulus Entscheidung Gott ans Herz („Sein Wille geschehe!“). Indem sie die Weiterreise vorbereiten und Paulus begleiten, zeigen sie, dass sie den Entschluss akzeptieren.

3. Für die Praxis: „Einsame Entscheidungen“ treffen
Aus Apg 21,10-14 können folgende Kriterien für „einsame Entscheidungen“ abgeleitet werden:

  • Ratschläge oder prophetische Worte dürfen nicht dazu verleiten, mir die Entscheidung abzunehmen. Ich muss selbst vor Gott die Verantwortung für meinen Weg übernehmen. (1)
  • Die Konsequenz meiner Entscheidung darf nur die Zukunft meiner eigenen Person angehen, indirekt wird sie wohl ebenso andere betreffen. (2)
  • Die Meinung der Glaubensgeschwister kann mir nicht egal sein (3), was bedeutet, dass ich sie gewissenhaft prüfe.
  • Die sachlichen Gründe für meine Entscheidung sollten nicht egoistisch motiviert, sondern Gottes Ziele für die Gemeinde und der Ausbreitung des Evangeliums im Auge haben. (4)
  • Meine Entscheidung muss grundsätzlich mit dem Wort Gottes vereinbar sein. (5)
    „Einsame Entscheidungen“ im Dienst für Gott zu treffen, bedeutet nicht immer den leichteren Weg zu wählen. (6)
  • Die Gemeinde soll „einsame Entscheidungen“ von Christen akzeptieren, nicht nach- tragend sein, sondern sie – wenn möglich – begleiten! (7)