Ausgabe April / Mai 2017 – Dieter Kamlah, Vorsitzender des Süddeutschen Gemeinschaftsverbandes, Vorsitzender der Dienstgemeinschaft für Verkündigung und Seelsorge (RGAV)

 

Ecclesiola in ecclesia
(kleine Gemeinden in der Gemeinde)
Die Reformation war ein komplexes Geschehen in dem biografische, politische, gesellschaftliche, theologische, geistesgeschichtliche, kulturelle und liturgische Veränderungsprozesse ineinander gegriffen und aufeinander eingewirkt haben.

 

In seiner Dissertation „Die dritte Weise“ legt der Theologe Johannes Blohm überzeugend dar, dass Martin Luther bei der praktischen Durchsetzung der Kirchenreform der Gottesdienstgestaltung eine entscheidende Schlüsselrolle zuschrieb (J.Blohm, „Die dritte Weise“, 1992, Calwer Theologische Monographien Reihe C, Bd 18). Zu den grundlegenden und nachhaltig wirksamen Ausführungen in diesem Zusammenhang gehört Luthers 1526 erschienene Schrift „Deutsche Messe und die Ordnung des Gottesdienstes“. In großartiger Weise rahmt Martin Luther dort sei- ne Vorschläge für eine mögliche Ordnung deutschsprachiger Gottesdienste mit dem grundsätzlichen Vorzeichen evangelischer Freiheit und dem unerlässlichen Schlusspunkt beständiger Reformbereitschaft ein. Er beginnt seine Ausführungen mit folgenden Sätzen: „Vor allen Dingen will ich gar freundlich gebeten haben, auch um Gottes Willen, dass alle diejenigen, die diese unsere Ordnung im Gottesdienst sehen oder befolgen wollen, ja kein notwendig Gesetz draus machen.“ Die Schrift schließt folgendermaßen: „Die Ordnungen sollen zur Förderung des Glaubens und der Liebe dienen und nicht zum Nachteil des Glaubens. Wenn sie nun das nicht mehr tun, so sind sie schon tot und abgetan und gelten nichts mehr. “

Die dritte Art des Gottesdienstes
In der sog. Vorrede, den klärenden Vorbemerkungen, bevor sich Luther im Besonderen mit der deutschen Messe befasst, unterscheidet er drei verschiedene Formen des Gottesdienstes, die seiner Meinung nach nicht in einem strengen ausschließlichen Entweder-Oder sondern in einem durchaus denkbaren Sowohl-Als-auch zu betrachten sind.

Die erste Gottesdienstform ist die lateinischsprachige Messe. Die zweite Gottesdienstform ist die deutschsprachige Messe bzw. der deutschsprachige Predigtgottesdienst.

Als dritte und letzte Gottesdienstform beschreibt Martin Luther nun in seiner Vorrede eine Weise der Versammlung, die für ihn die genuin evangelische wäre, die er aber aus Mangel an Nachfrage durch bewusst entschiedene Christen und aus Mangel an reifen Persönlichkeiten nicht auf den Weg zu bringen vermag. „Diejenigen, die mit Ernst Christen sein wollen und das Evangelium mit der Tat und dem Munde bekennen, müssten sich mit Namen einzeichnen und sich etwa in einem Haufen versammeln zum Gebet, lesen, zu taufen, das Sakrament empfangen und andere christliche Werke zu üben.“

J.Blohm arbeitet in seiner bereits erwähnten Dissertation in pointierter Weise die zentralen Gedanken und Intentionen dieses genialen Entwurfs eines „ecclesiola-in-ecclesia-Konzeptes“ heraus. Treffend schreibt Blohm über Luthers Gemeindeideal: „Seine ekklesiologische Idealvorstellung schien eine Kirche zu sein, die sich aus lauter kleinen, aber geistlich sehr lebendigen Zellen oder Kleingruppen zusammensetzt. Luther möchte aus solchen kleinen Gruppen gläubiger Christen eine große geistliche Gemeinschaft, die communio sanctorum, aufbauen.“

Neben Wort und Sakrament als den geläufigen Kennzeichen der Kirche (notae ecclesiae) entdeckt Blohm bei Luther die Aufnahme von drei weiteren Kennzeichen, ohne die offensichtlich eine Gemeinde nach „rechter evangelischer Ordnung“ nicht zu beschreiben ist. Er spricht von der notwendigen karitativ- diakonischen, katechetischen und missionarischen Dimension und meint damit die Unerlässlichkeit der gegenseitigen praktischen Fürsorge (Apg 2,44f), der Einführung in die fundamentalen Lehren des Glaubens (Hebr 6,1f) und der gemeinsamen Beauftragung (Mt 5,13ff) und Befähigung zum Zeugen- dienst (Eph 4,11f).

Neu aktivieren
Luthers geniales Programm blieb etwa 150 Jahre unaktiviert, bis es von Philipp Jakob Spener 1675 auf ein „Betriebssystem“ aufgespielt wurde, zu dem dieser sich durch den Genfer Mystiker Jean de Labadie inspirieren ließ. Es handelte sich dabei um die Einrichtung kleiner erbaulicher Gesprächskreise, die sog. Konventikel oder collegia pietatis, wie Spener sie nannte. Spener entwickelte in seinen Buch „Pia desideria“ (Fromme Wünsche) ein bemerkenswertes und nachhaltig wirksames Reformprogramm.

Allerdings erwies sich Speners Versuch, Luthers Programm zu einer „rechten evangelischen Weise“ von Kirche auf dem „Betriebssystem“ der Konventikel zum Laufen zu bringen als ein Unterfangen, das nur mit erheblichen Veränderungen der ursprünglichen Intentionen ein- hergehen konnte. Die Konventikel als in sich geschlossene Gesprächskreise ohne missionarische Ausrichtung und ohne Ausformung als ganzheitliches Gemeindeleben, sowie die von besonderen geistlichen Erfahrungen oder einem eher subjektiven Gemeinschaftsgefühl zusammengehaltene Grüppchen waren doch noch einmal etwas vollkommen anderes als wahrhafte „ecclesiolae in ecclesia“, die Luther im Blick hatte. Luthers Vorstellung war definitiv nicht nur eine „Teil-ecclesia“ oder eine Gemeinschaft mit „ekklesialen Anteilen“ sondern eine ecclesia im vollen ekklesiologischen Sinne.

Der ökumenische Theologe Hans Joachim Kraus brachte es auf den Punkt: „Er (Luther) hat in der »Deutschen Messe« die institutionelle Kirche als missionarisches Forum verstanden und – in deutlicher Bezugnahme auf Apg. 2,46f – die Konstituierung von Gemeinschaften in Hausgemeinden angezeigt. In einer klaren Abgrenzung gegenüber allen Fehldeutungen und Missbräuchen, die in der Theologiegeschichte aus dem bedeutsamen Passus der Deutschen Messe abgeleitet worden sind, werden die Aussagen des Reformators noch einmal neu zu erarbeiten und in ihren Konsequenzen zu bedenken sein.“

Heute auffrischen
Immer wieder in der Geschichte des Pietismus und der evangelikalen Bewegung haben wertvolle Impulse aus dem anglikanischen Raum zu inspirierenden Horizonterweiterungen und Neubelebungen geholfen. In der ökumenischen Fresh-Expressions-Initiative („Frische Ausdrucksweisen“) der Church of England ist uns gewissermaßen aus einem ganz anderen kirchlichen Hintergrund ein zeitgemäßes Anschauungsbeispiel zugewachsen, wie eine den Intentionen Luthers entsprechende Aktivierung des Programms der „ecclesiola in ecclesia“ im 21. Jahrhundert aussehen könnte.

Der für diese Initiative verantwortliche Bischof Steven Croft erklärte die einfache Grundüberzeugung hinter dem Programm von Fresh Expressions of Church so: „Es gibt also nicht ein einziges Modell von Kirche, das nur immer wieder kopiert wird, sondern viele verschiedenen Gestaltungsformen für viele verschiedene Kontexte und Lagen.“ Sollten sich die Kirchen und die Gemeinschaftsverbände in Deutschland nicht von dem lebendigen Aufbruch in der Church of England motivieren lassen, das Konzept der „ecclesiola in ecclesia“ noch einmal ganz neu aufzugreifen?

(Weitere Ausführungen zum Thema finden sich bei: http://www.rgav.de/akzente/aktuelles-heft/80-ausgabe-2-im-jahr-2012-thema-qgemeindeq.html)