Ausgabe August / September 2017 – Dr. Thomas Greif, Leiter von Museum und Archiv der Rummelsberger Diakonie

 

Aus sozialpolitischer Sicht war die Reformation keine reine Erfolgsgeschichte. Martin Luther dachte manche diakonische Idee an, ohne sie aber in theologische Konzepte zu kleiden. Die staatliche Obrigkeit nahm er zwar in die Pflicht, doch Fürsten und Städte fühlten sich keineswegs immer verbindlich angesprochen. Dennoch waren die Vorstellungen, die er über den „gemeinen Kasten“ entwickelte, zukunftsweisend.

 

Armut soll gar nicht erst entstehen
1522 hatte der Rat der Stadt Leisnig in Sachsen Luthers Rat in Sachen Armenpflege erbeten. Der Reformator fuhr zweimal nach Leising und schrieb den Stadtvätern eine „Brüderliche voreinigunge des gemeinen kasten ganzer eingepfarten versammlunge zu Leisnek“. Das Papier war als Blaupause für andere gedacht – oder, in Luthers Worten: „Ein gemein exempel, dem auch viel andere gemeinden nachfolgeten“.

Im Gegensatz zu anderen Armenordnungen seiner Zeit ging Luther aber weit über die reine Armut- und Bettelfrage hinaus und berücksichtigte auch Themen wie den Betrieb von Schulen (und zwar auch für Mädchen!), den Unterhalt kirchlicher Gebäude und die Bezahlung der kirchlichen Mitarbeiter. Detailliert nannte er mögliche Einnahmen und deren Verwaltung.

Revolutionär war Luthers Vorgabe, Armut gar nicht erst entstehen zu lassen, damit eine Versorgung von Bettlern nicht notwendig wurde. Die spätmittelalterliche Gesellschaft hatte daran kein Interesse gehabt, waren die Armen doch aus ihrer Sicht Teil des göttlichen Heilsplanes: Man konnte ihnen Almosen geben und damit der eigenen Seele den Weg in den Himmel bahnen. „Die neue Ordnung Luthers folgte dem Schema, das wir heute als Prinzip von Prävention und Rehabilitation vor Alimentation beschreiben würden“, skizziert der Diakoniehistoriker Georg-Hinrich Hamer Luthers Konzeption.1 Erstaunlicherweise ließ Luther die Kirche inhaltlich außen vor. Sie diente im Grunde nur als Aufstellplatz der Geldschatulle. Verwaltet wurde der „gemeine Kasten“ von der Bürgergemeinde.

Sozialfürsorge unzureichend?
In seinen programmatischen Schriften der frühen 1520er Jahre betonte Luther die soziale Verpflichtung eines jeden Christenmenschen. Es gelte, „dass ein jeglicher sich seines Nächsten also annehme, als wäre er ́s selbst.2 In einer Predigt erläuterte der Reformator, wie man sich das konkret vorzustellen hatte: „Die lebendigen heiligen sein dein nehsten, die nackende, die hungerichen, die dorstigen, arme leut, die weyb und kyndlein haben, die schandt leiden; do wendt hin dein hulff, do leg dein werck an, do brauch dein zungen hyn, das du sie beschutzest, dein mantel auff sie deckst und zu ern helfst.“3

Doch weder Luthers vereinzelt geäußerte diakonische Gedanken noch seine Kastenordnung verhalfen einer neuen Sozialfürsorge zum Durchbruch. Viele Fürsten und Städte zogen zwar Klosterbesitz ein, verwendeten ihn aber oft nicht für soziale Zwecke – entgegen Luthers ausdrücklicher Empfehlung, die aus einem Brief an den sächsischen Kurfürsten Johann den Beständigen von 1531 hervorgeht: darin empfahl Luther, die Einnahmen aus Klostergütern „ad pias causas“ zu verwenden, worunter er die Pfarrerbesoldung, die Bildung und caritative Zwecke verstand.4 Durch den Niedergang des Klosterwesens in den protestantischen Gebieten entstanden Lücken, etwa in der Krankenpflege, die erst hunderte von Jahren später geschlossen werden konnten. Die „guten Werke“ waren nach zentraler lutherischer Auffassung ja nicht mehr für das Seelenheil erforderlich: Der Schlüssel lag nun allein in der Gnade Gottes. Auf einem theologischen Umweg verpflichtete Luther allerdings auch seine Anhänger zur Barmherzigkeit: Nach seiner Auffassung könne allein der Glaube („sola fide“) zur göttlichen Gnade führen. Sebastian Schmidt umreißt die Konsequenz: „Wo keine christlich fürsorgende Nächstenliebe zu erkennen ist, fehlt es demnach offenbar am rechten Glauben.“5 Also, trotz allem: Gute Werke, ja bitte.

Etwas besser kam die Sozialfürsorge bei den Reformierten weg. Johannes Calvin sah in seiner „Institutio Christianae Religionis“ ausdrücklich die Revitalisierung des (ehrenamtlichen) Diakonenamtes vor – im verwaltenden und im helfenden Dienst, etwa als Krankenpfleger: „Die Diakonie wurde durch Calvin wieder zu einer Grundfunktion der Kirche“, unterstreicht Hammer.6 Vor allem in den reformiert geprägten Niederlanden, aber auch in reformierten Gegenden in Norddeutschland entfaltete sich im späten 16. und 17. Jahrhundert ein reiches diakonisches Leben.

Das Verdienst Johann Hinrich Wicherns
Bei den Lutheranern dagegen kam es zu einer Entwicklung, die man aus heutiger Sicht nur als Irrweg verbuchen kann. Durch die von Luther vorgegebene Nähe zur staatlichen Obrigkeit, die sich in der Funktion des Landesherrn als Landesbischof symbolisierte, entschwand den Amtskirchen das diakonische Bewusstsein. Pfarrer hatten zu taufen, zu trauen und zu beerdigen; für die Fürsorge für Arme und Kranke fühlten sie sich nicht zuständig. Noch 1835 formulierte ein rheinischer Superintendent unmissverständlich: „Die Versorgung der Armen ist eigentlich ein Zweig der Staatsverwaltung und nicht Sache der Kirche.“7 Erst Wichern & Co. gelang es, die amtskirchliche Bräsigkeit zu knacken und diakonisches Handeln peu á peu zurück in die Kirchen zu holen.

Fußnoten:

  1. Georg-Hinrich Hammer: Geschichte der Diakonie in Deutschland. Stuttgart 2013, S. 78.
  2. Luther. Martin: Von der Freiheit eines Christenmenschen. 1520. zit. bei Hammer. S. 76.
  3. Luther, Martin: Predigt 1522, zit. bei Hammer. S. 76.
  4. Mager, Inge: Reformatorische Klosterpolitik im Dienst der Bildung. In: Nathalia Kruppe und Jürgen Wilke (Hg.): Kloster und Bildung im Mittelalter. Göttingen 2006, S. 559-573, hier S. 561.
  5. Schmidt, Sebastian: Caritas und staatliche Armenfürsorge in der Frühen Neuzeit. In: Stiegemann, Christoph (Hg.): Caritas. Nächstenliebe von den frühen Christen bis zur Gegenwart (Ausstellungskatalog), Paderborn 2015, S. 276-287, hier S. S. 278.
  6. Hammer, Geschichte der Diakonie, S. 95.
  7. Zit. bei Göbell, Walter: Die Rheinisch-Westfälische Kirchenordnung vom 5. März 1835., 2. Bd., Düsseldorf 1954, S. 79.