Ausgabe Dezember 2017 / Januar / Februar 2018 – Pastor Dr. Joachim Cochlovius, Walsrode

 

1. Sterbende Volkskirche
1.1 Was ist Volkskirche?
In der Zeit des Absolutismus war sie „Kirche des Volkes“, d.h. der Herrscher bestimmte über die Kirchenzugehörigkeit seiner Untertanen. In der Zeit der konstitutionellen Monarchie, der Weimarer Republik und de jure in der Bundesrepublik Deutschland war und ist die Volkskirche „Kirche im Volk“, d.h. sie verfügt über einen verfassungs- rechtlich garantierten Sonderstatus im Volk.

 

Im heute herrschenden Selbstverständnis der Volkskirche wird sie immer mehr zur „Kirche für das Volk“, d.h. sie versteht sich als religiöser Dienstleistungsbetrieb für das Volk. Wird sie in absehbarer Zeit eine „Kirche ohne Volk“?

1.2 Die Abhängigkeit der Volkskirche von den geistigen Entwicklungslinien des Volkes
Die absolutistische Entscheidung Konstantins, Kirche als Volkskirche zu organisieren, hat diese in eine enge Verbindung und Abhängigkeit von der politischen und geistigen Entwicklung des Volkes gebracht. Die mit dem Humanismus ein- setzende Emanzipation des Individuums von allen herkömmlichen Autoritäten führt zur Dominanz des Rationalismus, der in der Philosophie Kants seine bis heute gültige Ausprägung erhält. Die weltimmanente Wirklichkeit wird das bestimmende geistige Paradigma des Volkes. Die Volkskirche folgt dieser Entwicklung und gerät damit unter den Einfluss der heute öffentlich in Geltung stehenden Prinzipien der Selbstbestimmung des Individuums und des Wertepluralismus.

1.3 Zur heutigen inneren Verfassung der Volkskirche
Unter dem Einfluss der Philosophie Kants hat die akademische Theologie ihre traditionelle Grundlage der biblischen Offenbarung weitgehend preisgegeben und befasst sich infolge dessen vorrangig mit innerweltlichen Aspekten des Christentums. Der Absolutheitsanspruch des christlichen Glaubens wird nur noch graduell, nicht mehr prinzipiell festgehalten (z. B. bei dem führenden liberalen Theologen Ernst Troeltsch, gest. 1923).

Die prägende Kraft des christlichen Glaubens für das Volk geht in unserem Jahrhundert rapide zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird die Geltung des Rationalismus in der Bibelexegese durch kirchenleitende Gremien sanktioniert (z. B. durch die Anerkennung des sog. „Entmythologisierungsprogramms“ Rudolf Bultmanns). Damit wurde die bis dahin schon de facto herrschende Dominanz des Rationalismus auch de jure in der Volkskirche anerkannt. Der Protestantismus, vom Ursprung her eine Bibelbewegung, ist damit entscheidend gelähmt. Die neuere Entwicklung der theologischen Ethik zeigt das Vordringen von Positionen, die auf den postmodernen Prinzipien der Selbstbestimmung und des Wertepluralismus beruhen (z.B. in der Frage der Abtreibung, Homosexualität und des Dialogs mit den Weltreligionen).

2. Lebendige Gemeinden in einer sterbenden Volkskirche
2.1 Die Gemeinde Jesu ist eine Glaubenswirklichkeit.
Sie muss geglaubt werden (Dritter Glaubensartikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses). Luthers Definition der Kirche in der Schrift „Von den Konzilien und Kirchen“ (1539) ist bis heute nicht überholt. Kirche Jesu Christi ist nach Martin Luther dort, z wo das Evangelium gepredigt und geglaubt wird;

  • wo die Taufe in den Dreieinigen Gott praktiziert und geglaubt wird;
  • wo das Mahl des Herrn der Austeilung gemäß ausgeteilt und geglaubt wird;
  • wo Gemeindezucht und Sündenvergebung praktiziert wird;
  • wo es Leitungsdienste gemäß der Einsetzung Christi gibt;
  • wo das gemeinsame und öffentliche Gebet im rechten Glauben geschieht;
  • wo Bereitschaft zum Leiden und zur Anfechtung vorhanden ist.

2.2 Diese geistliche Definition nötigt uns zur Klärung unseres Kirchen- und Glaubensbegriffs.
Das bedeutet:

  • Ich darf Gott überall, auch in der Volkskirche, schöpferisches Handeln zutrauen. Er kann überall Kirche im Sinn der Definition Martin Luthers entstehen lassen.
  • Ich muss mich immer zur Gemeinde Jesu als Glaubenswirklichkeit hindurch- glauben, denn die sichtbare Gestalt der Gemeinde ist durchsetzt mit Fehlentwicklungen und falschem Glauben.
  • Weil die Gemeinde Jesu in ihrer sichtbaren Gestalt immer ein gefährdeter Organismus ist, braucht sie Leitungsämter, die sie andauernd zu Glaube, Hoffnung und Liebe führen und sie darin stärken.

2.3 Die Lage der Gemeinde Jesu in der heutigen Gestalt der Volkskirche („Kirche für das Volk“)
Die in der postmodernen Gesellschaft herrschenden Prinzipien der Selbstbestimmung und des Wertepluralismus dominieren heute weithin auch das volkskirchliche Leben. Damit haben theologische Positionen, die diese Prinzipien nicht anerkennen, so gut wie keine Chancen mehr, mehrheitsfähig zu werden. Die Erwartung, dass die Volkskirche sich auf dem Wege ihrer Leitungsgremien geistlich erneuern könnte, muss im Blick auf den jahrhundertelangen geistigen Prozess, der zur heutigen Situation geführt hat, als unrealistisch bezeichnet werden. Damit wird nicht bestritten, dass es in der Volkskirche auf Gemeinde- oder Kirchenkreisebene noch möglich ist, Gemeindekonzepte auf der Grundlage des biblischen Offenbarungsglaubens zu verwirklichen. Aber sie sind seltene Ausnahmen, die den Sterbeprozess der Volkskirche zwar verzögern, aber nicht umkehren können.Im heutigen Stadium der Volkskirche werden geistlich mündige Gemeinden gebraucht, die ihre Verantwortung für das Volk und die Volkskirche wahrnehmen. Geistlich mündige Gemeinden müssen diese Verantwortung heute vor allem in folgenden Bereichen wahr- nehmen: Ausbildung, Verkündigung, Seelsorge, Leitung.Nach dem Zweiten Weltkrieg ist in diesen Bereichen vieles geschehen (z.B. in Form der sog. „Parallelstrukturen“), aber zur Ausbildung eines allgemeinen geistlich mündigen Selbstbewusstseins volkskirchlicher Christen, zu einer umfassenden Sammlung und Vernetzung von Aktivitäten und zum Aufbau alternativer gemeindlicher und übergemeindlicher Strukturen ist es erst in Ansätzen gekommen. Wünschenswerte Konkretionen geistlicher Verantwortung wären z.B.:

  • Für die Ausbildung: Vernetzung der bestehenden gemeindegetragenen Ausbildungsinitiativen. Aufbau einer Gemeindefakultät. Fonds zur Finanzierungshilfe für alternativ oder teilalternativ ausgebildete Theologen.
  • Für die Verkündigung: Wenn die Gemeinde Jesu vom Evangelium lebt, dann muss dort ein Verkündigungsdienst aufgebaut werden, wo von den Kanzeln das Evangelium nicht mehr ertönt (Verantwortung der Hauskreise!).
  • Für die Seelsorge: Angesichts des immensen Seelsorgenotstands muss die Gemeinde dort befähigte Seelsorger ausbilden und einsetzten, wo es an Seelsorge mangelt.
  • Für die Leitung: Wenn volkskirchliche Leitungsgremien ihrer geistlichen Verantwortung nicht gerecht werden, müssen alternative gemeindliche und übergemeindliche Leitungsstrukturen entwickelt werden (Vereine, Vernetzung von Kirchenvorständen, Aufbau alternativer Synoden)