Ausgabe August / September 2017 – Dr. Klaus vom Orde, Halle/Saale; Spenerforschungsstelle der Sächsischen Akademie zu Leipzig in den Franckeschen Stiftungen in Halle

 

Die Reformation unter dem Schutz der Fürsten
Was wäre, wenn …? Eigentlich darf ich nicht so fragen, wenn ich mich mit der Geschichte beschäftige. Dennoch drängt sie sich auf, wenn wir manche Entwicklungen kritisch betrachten. Es könnte aber mehr als eine „Spielerei“ sein, was aus der reformatorischen Bewegung geworden wäre, wenn Martin Luther sie nicht unter den Schutz der Fürsten gestellt hätte.

 

Die Frage ist nicht neu. Schon in der Zeit nach dem 30-jährigen Krieg taten sich manche ernsthafte Christen mit der en- gen Verbindung zwischen Kirche und politischer Obrigkeit schwer. Manche folgten dem Ruf William Penns, der in der Neuen Welt eine Zufluchtsstätte bieten wollte, an der jeder seinen Glauben nach seinen eigenen Vorstellungen bekennen und leben konnte.

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, als die Kirche in Deutschland eine neue Ordnung brauchte, gab es wieder Stimmen, die nun darauf drängten, die christlichen Kirchen als „freie Gemeinden“ und völlig unabhängig vom Staat neu zu konstituieren. Heute werden ähnliche Erwartungen von zwei ganz unterschiedlichen Seiten laut: Einerseits von christlichen Gemeinden, die sich mit dem Sonderstatus der Landeskirchen schwer tun, andererseits aus der zunehmend säkularen Gesellschaft, die einen völlig laizistischen Staat etwa nach dem Vorbild Frankreichs fordert.

Kritisches Korrektiv?
Es muss gefragt werden: Würde es den christlichen Kirchen der Reformation geistlich besser gehen, wenn sie sich eigenverantwortlicher entwickelt hätten? Und: Hat die Nähe zum Staat der Kirche allzu häufig ihren kritischen Blick vernebelt, so dass sie ihrer Aufgabe (auch) als kritisches Korrektiv in der Gesellschaft zu wirken, verpasst hat? Um Antworten auf diese Fragen zu geben, ist zweierlei zu unter- scheiden: Die Entstehungszeit der evangelischen Kirche und ihre Ausgestaltung der folgen- den Zeit. Im 16. und noch im 17. und 18. Jh. war die Gesellschaft dreigliedrig unterteilt. Geradezu poetisch lässt sich dies beschreiben: Der „Wehrstand“, also die politische Obrigkeit, hatte die Aufgabe, die Menschen im Land vor äußeren Feinden und vor innerer Unruhe zu schützen. Der „Lehrstand“, also die geistliche Obrigkeit, war für die Überlieferung und Gestaltung der Bildung zuständig. Schon im Mittelalter waren die Klöster die Träger der Gelehrsamkeit. In den Universitäten der frühen Neuzeit stand unter den drei Fakultäten (Theologie, Jura, Medizin) die Theologie an erstere Stelle. Lehrer an den Lateinschulen waren durchweg Theologen. Eine selbständige pädagogische Ausbildung entstand erst im Laufe des 18. Jh. Der „Nährstand“ war die restliche Bevölkerung, also die Bauern, Handwerker, Geschäftsleute usw. In der Reformationszeit stellte eigentlich niemand diese streng hierarchisch gegliederte Gesellschaft in Frage. Dazu kam die kirchliche Hierarchie mit dem Papst an der Spitze.

Diese kirchliche Ordnung nun, die bis zum kleinen Dorfgeistlichen genau geregelt war, stand mit der reformatorischen Erkenntnis und der Kritik an Papst und Kirche auf einmal nicht mehr zur Verfügung. Eine riesige ordnungspolitische Problematik tat sich auf. Mit dem Gedanken der „Priesterschaft aller Getauften“ standen die einfachen Kirchenglieder nun „auf einer Stufe“ mit den Geistlichen. Es gab kein Lehr- und Entscheidungsmonopol. „Charismatische“ Führerpersönlichkeiten füllten das entstandene Vakuum aus und ließen eine „inoffizielle Hierarchie“ entstehen. Dies zeigt sich etwa in dem sog. „Bauernkrieg“. Theologisch gesprochen geht es um das Verhältnis von „Amt und Charisma“. Eine Gesellschaft, die an eine feste Ordnung gewöhnt war, musste sich mit der neuen „Freiheit eines Christenmenschen“ schwer tun, die niemals nur eine geistliche Aussage ist, sondern auch konkrete Folgen im gesellschaftlichen Alltag hat. Praktische Erwägungen konnten die Reformatoren zu keiner anderen Lösung führen, als der politischen Obrigkeit, die nach dem Wegfall der kirchlichen übrig blieb, – wenigstens vorläufig – die Leitungsverantwortung für die Kirche zu übertragen. Luther war sich der Problematik durchaus bewusst. Für ihn war der Fürst ein „Notbischof“!

Das Amt des „Notbischofs“
Es war gedacht, dass die politische Obrigkeit die Kirche unterstützen, sie aber nicht beherrschen oder für eigene Ziele missbrauchen sollte. Im 17. Jh. wurde dazu häufig Jes 49,23 als biblischer Beleg angeführt. Die Wirklichkeit sah häufig anders aus. Einem Problem sahen sich auch die Geistlichen aus- gesetzt: Wenn sie zu Staatsbeamten wurden, mussten sie zwangsläufig „zwei Herren dienen“. Aber dies entspricht eigentlich der Wirklichkeit der Christen, die nicht „von der Welt sind“, aber „in ihr“ leben. Nicht die Nähe oder Distanz zur staatlichen Obrigkeit ist also das eigentliche Problem, sondern es lässt sich durch zwei Fragen benennen:

  1. Sind sich die politisch Verantwortlichen bewusst, dass ihre Macht nur verliehen und abgeleitet ist? Das ist der eigentliche Sinn der in der Ge- schichte verwendeten Formel „von Gottes Gnaden“. Probleme entstehen dort, wo sie „auf den Kopf gestellt“ wird.
  2. Begreift die Kirche ihr „prophetisches Amt“ recht, weswegen sie immer in einem kritischen Verhältnis zu allen menschlichen Ordnungen steht?

Wo mindestens einer dieser Grundsätze nicht beachtet wird, eröffnet sich der Missbrauch der rechten Zuordnung zur politischen Obrigkeit. Was in der Folgezeit zu beklagen war, hat seinen Grund nicht in der Entscheidung der Reformatoren, sondern darin, wie und ob das Verhältnis der Kirche zur politischen Obrigkeit an diesen Grundsätzen ausgerichtet war.

Kleinglauben der Reformatoren?
Die Antwort auf die folgende Frage, ergibt sich damit von allein: War das, was im 16. Jhd. politisch nötig zu sein schien, auch geistlich notwendig? Oder zeugt es für einen gewissen „Kleinglauben“ der Reformatoren, dass Gott dieses Werk der Erneuerung auch ohne diesen „Ausweg“ hätte schützen können? Sieht man davon ab, wie spekulativ diese Frage ist, ist daran zu erinnern, dass die christliche Kirche immer unter den konkreten Bedingungen dieser Welt ihre Gestalt gewinnt. Die Form einer Gesellschaft sich ändern kann. Die Verpflichtung der Kirche dem Evangelium gegenüber bleibt. Die frohe Botschaft betrifft aber nicht nur den einzelnen Menschen, sondern soll sich auch im Zusammenleben zeigen. Damit ist die Verkündigung des Evangeliums in Wort und Tat immer politisch. Die größere oder geringere Nähe zur politischen Macht kann also nicht dafür verantwortlich gemacht werden, ob Christen ihren prophetischen Auftrag, den Willen des – wirklichen! – Herrn der Welt zu verkündigen. Nicht der spekulative Blick in die Vergangenheit ist also angesagt, sondern der Versuch, das geschichtlich gewordene Verhältnis von Kirche und Staat an vom Evangelium her zu gestalten.