Ausgabe Oktober / November 2017 – Dr. Otto Haß, Nürnberg, Dr. theol., Dipl.Mathematiker, Akad. Direktor der Universität Erlangen-Nürnberg i.R.

 

Man kann das Gewissen allgemein als „Ort der moralischen Selbstbeurteilung des Menschen“ auffassen, ein Ort, an dem zwischen Gut und Böse unterschieden wird. Wie kommt es zu diesem Ort im Menschen?

 

Ist es eine wesensmäßige Anlage oder ein Ergebnis kulturgeschichtlicher Entwicklung? Die katholische Tradition interpretiert das Gewissen als ‚allgemeinen Hang zum Guten‘. Luther sah dagegen auf Grund seiner Lebenserfahrung, vor allem aber wegen des alt- und neutestamentlichen Zeugnisses, im Gewissen eher einen ‚Hang zu Bösem‘: Es bleibe vielmehr so: Gott ist wahrhaftig und alle Menschen sind Lügner. Luther verweist insbesondere auf Psalm 51, in dem zu lesen ist: „An dir allein habe ich gesündigt; ich erkenne meine Missetat.“ Das schlechte Gewissen plagt den Beter. Er bittet Gott daher: „Gott, sei mir gnädig nach deiner Güte, und tilge meine Sünden nach deiner großen Barmherzigkeit.“

Luther glaubte an die Erlösungstat Christi und war der Überzeugung, dass sein gequältes Gewissen von Gott befreit werden könne. Aus seinem durch die Sünde gefangenen Gewissen werde ein „getröstetes Gewissen, das alle Tränen und Tropfen menschlicher Beschwernisse“ aufzehrt. Dieses getröstete, jetzt in Gottes Wort gefangene Gewissen ist Kraftquelle und Fähigkeit, Gutes tun zu wollen. Es ist allerdings fehlbar und kann jederzeit irren. Mit Luthers Worten (verkürzt wiedergegeben): Das Evangelium ist ein Trost in der Angst der Gewissen derer, die Gottes Zorn wider Sünde und Schwachheit in Schrecken fühlen, ausgelöst durch die Predigt des Evangeliums und zug richtet dazu, dass man bedenke und betrachte, man habe Gottes und nicht Menschen Gesetz übertreten und dagegen gehandelt.

Das Evangelium soll uns aufmuntern und anregen, den Trost nicht in irgendwelchen menschlichen Verdiensten und Werken, sondern in der Predigt eben dieses Evangeliums zu suchen. Das heißt, wenn unser Gewissen von Gott zum Frieden gebracht, gestillt und getröstet worden ist, sollen wir den Glauben auch mit guten Werken beweisen, die Gott in den zehn Geboten befohlen und geboten hat.

In diesem Sinn konnte Luther am 18.4.1521 vor Kaiser und Reich bekennen: „Mein Gewissen ist in Gottes Wort (im Evangelium) gefangen. Und ich kann und will auch nichts widerrufen, da gegen das Gewissen zu handeln weder sicher noch einwandfrei ist.“

Wie weit die Evangelische Kirche in Deutschland sich von dieser lutherischen Argumentation entfernt hat lässt sich erkennen, wenn man „Die Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland im Jahr 2013“ daraufhin sorgfältig liest. Der Schreiber dieser Zeilen hat in „Wirtschaft und Ethik“ (Mitteilungen der Gesellschaft zur Förderung von Wirtschaftswissenschaften und Ethik e.V. 25. Jg. Nr.1, Juni 2014) das Ergebnis der Lektüre folgendermaßen zusammengefasst: „Die mehrfach geäußerte Kritik, dass die Autorität der biblischen Schriften in der Orientierungshilfe in Frage gestellt werde, muss …. voll bestätigt werden.“

Die Diskussion über dieses Problem dürfte noch nicht abgeschlossen sein. Alle Luther-Zitate sind aus dem zehnbändigen ‚Luther Deutsch‘ (herausgegeben von K. Aland, erschienen von 1959 bis 1969) entnommen. Auch unter Mithilfe von: Greschat,M.: Reformationszeit I, Mainz u.a., 1981, Joest,W.: Ontologie der Person bei Luther, Göttingen 1967