Ausgabe Juni / Juli 2017 – Christoph Morgner, Garbsen Altpräses des Ev. Gnadauer Gemeinschaftsverbandes

 

Bei Luther lassen sich zwei Phasen feststellen. Der junge Luther denkt anders als der alte Luther. Manches ist uns heute unverständlich. Wir müssen aber sehen, dass Luther auch ein Kind seiner Zeit ist. Und damals war es ein großer Erfolg der Menschlichkeit, dass ein Andersgläubiger auswandern darf und so sein Leben retten konnte. Erst mit dem Westfälischen Friede 1648, ca. 100 Jahre nach Luthers Tod, fanden die Konfessionskriege in Deutschland ein Ende. Wir veröffentlichen mit Einverständnis von Christoph Morgner einen Auszug aus dem Buch „Tinte, Thesen, Temperamente. Ein Lesebuch auf den Spuren von Martin Luther“, Brunnen 2016, ISBN: 978- 3-7655-2064-8, dass bereits in zweiter Auflage erschienen ist.

 

„Das Judentum ist eine Pest …
… wie sie feindseliger und gehässiger gegenüber der Lehre Christi nicht zu finden ist“. So hat Erasmus von Rotterdam, der führende Humanist des ausklingenden Mittelalters geurteilt. Seine Aussage spiegelt die gesellschaftliche Stimmung wider, die damals gegenüber den Juden herrschte. Judenfeindschaft war der Normalzustand. Aus den meisten Ländern Europas waren die Juden bereits vertrieben worden. Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, das sich aus mehr als 300 Fürstentümern zusammensetzte, lebten da und dort Juden, die mal mehr oder mal weniger geduldet wurden. Juden wurden als Fremdkörper empfunden, herrschte doch die Überzeugung, dass es „in einem christlichen Staat nur einen, den rechten Glauben geben dürfe“ (Dorothea Wendeburg).

In diese Gemengelage hinein kommt Martin Luther. Er hat wohl einzelne Juden gekannt, aber keine jüdischen Ansiedlungen. Was er zum Thema sagt, ist, wie oft bei seinen Aussagen, stark abhängig von der jeweiligen Situation bzw. von den Anfragen, auf die er reagiert. Aber das ist klar: Nirgendwo spielen bei ihm irgend- welche rassistischen Motive eine Rolle, wie das im Dritten Reich der Fall war. Es gibt keine direkte Linie von ihm zu Auschwitz. Auch die strengen, uns sehr befremdenden Maßnahmen gegen die Juden, die er am Ende seines Lebens fordert, gehen nicht über das hinaus, was damals im allgemein üblich war. Aber das Gebot der Nächstenliebe gilt auch gegenüber Juden. „Die Ablehnung von Gewalt gegen die Person von Juden hat Luther zeitlebens beibehalten, die Verbrennung von Menschen etwa – wie sie damals noch vielfach vorkam – stets verabscheut“ (Walter Bienert).

Die Juden – von Gott erwählt
Luther tritt im Jahr 1514 für die Freiheit von Forschung und Lehre ein. Er wendet sich gegen das Verbrennen jüdischer Bücher, denn „100fach schlimmer sind die Gotteslästerungen in der Christenheit“. … Juden sollen mit Liebe und Geduld zum Glauben an Jesus Christus eingeladen werden. „Dass Jesus ein geborener Jude sei“, so heißt die Schrift, die im Jahr 1523 zu einem literarischen Paukenschlag wird. Ihre Aussagen sind revolutionär. Die Juden „sind von dem Geblüt Christi; wir sind Schwäger und Fremdlinge, sie sind Blutsverwandte, Väter und Brüder unseres Herrn“. Luther wendet sich gegen die Gräuelmärchen, die über Juden im Umlauf sind. Er kritisiert deren Ghettoisierung und die Berufsverbote, die über sie verhängt sind. Freundlich und wertschätzend sollen Christen und Juden miteinander umgehen. Hier zeigt sich Luther als Bahnbrecher für religiöse Toleranz. Er will Juden dienen und sie reizen, Christen zu werden. … Luther ist überzeugt: Wenn die Christen ihre Haltung gegenüber den Juden verändern, dann werden Juden eine andere Haltung zum christlichen Glauben annehmen, zumindest einige von ihnen. Sie werden erkennen, dass ihr Messias nicht erst kommt, sondern bereits gekommen ist

„Von den Juden und ihren Lügen“
Immer wieder hebt Luther die Vorzüge des erwählten Volkes heraus. Aber diese gelten vor Gott nichts, wenn die Juden sich nicht bekehren. Im Jahr 1541 entschließt sich Luther, gegen die Juden zu schreiben. Die jüdische Schrift, auf die Luther reagiert, ist leider verschollen. Sie enthält offensichtlich böse Schmähungen Christi und der Jungfrau Maria. Luther fühlt sich in seinem Glauben tief verletzt. Deshalb entsteht Ende 1542 die Schrift: „Von den Juden und ihren Lügen“. Die bisherige Gelassenheit Luthers ist dahin. Er sieht böse geschmäht, was ihm heilig ist. Er wendet er sich gegen die Behauptung, Maria, „eine Hure“, hätte während ihrer Menstruation „mit einem Schmied im Ehebruch“ Jesus gezeugt. Maria wird als „Dreckshaufen“ bezeichnet, Jesus als „Missgeburt“. Luther ist geradezu außer sich und gibt im berühmt gewordenen 4. Teil Ratschläge, wie die Obrigkeit künftig mit Juden umgehen soll. Luther nimmt jetzt die Gräuelmärchen von Brunnenvergiftungen durch Juden und deren Ritualmorde von Kindern auf. „Wir wollten gern Geschenke geben, dass wir sie loswerden“. Die Juden sind wie eine Krankheit, die man sich eingefangen hat.

Was tun? „Wir müssen mit Gebet und Gottesfurcht eine scharfe Barmherzigkeit üben“. Dieser Begriff ist widersprüchlich und gefährlich, weil damit Gewaltanwendung gerechtfertigt werden kann. Luther konkretisiert das und unterbreitet der Obrigkeit folgende Vorschläge:

  • Die Synagogen sollen verbrannt und zerstört werden, weil in ihnen Jesus Christus gelästert wird.
  • Auch die Häuser der Juden sollen zerstört werden. Es reichen für sie Notunterkünfte wie für Zigeuner.
  • Talmud und Gebetbücher sollen eingezogen werden.
  • Der Wucher soll ihnen untersagt werden.
  • Das Vermögen an Geld und Edelmetall soll konfisziert werden, um damit getaufte Juden zu unterstützen.
    Ihren Lebensunterhalt sollen sich die Juden durch eine Art Zwangsarbeit bei Christen verdienen.

Es geht Luther um die Vertreibung, nicht jedoch um die Tötung der Juden. Nach wie vor lehnt er körperliche Gewalt gegen Juden ab. Mit seinem Maßnahmenkatalog steht er nicht allein. Auch der Humanist Erasmus von Rotterdam, der exzellente Hebräischkenner Johannes Reuchlin und der katholische Theologe Johann Eck stimmen zu. … Gegen Ende seines Lebens schwankt Luther. Einerseits sieht er für Juden keine Hoffnung mehr. Andererseits schreibt er 1544: „Es gibt immer einige Juden, die gerettet werden“.

Luther „war keineswegs von blindem Hass auf die Juden und alles Jüdische erfüllt, sondern er meinte, im Kampf um die Wahrheit die evangelischen Territorien vor der Gefahr der Infiltration antichristlichen Geistes schützen zu müssen“ (Hans-Martin Barth). … Luther befürchtet, dass durch die Schmähungen der Juden und durch andere Einflüsse Christen an ihrem Glauben Schaden nehmen könnten. Er sieht sein Lebenswerk der Reformation in Gefahr.