Ausgabe Juni / Juli / August 2022 –  Hans-Joachim Eckstein

Licht und Schatten, Kraft und Schwachheit, Zuversicht und Niedergeschlagenheit – unser Leben ist von Gegensätzen bestimmt und die Perspektiven unserer Zukunft sind voller Kontraste. Da verwundert es nicht, dass wir uns für die kommende Zeit eine Auflösung der Spannungen wünschen und eine Überwindung der Einschränkungen unseres Lebens. Licht soll es endlich sein und nicht dunkel, stark und durchsetzungsfähig wollen wir sein und nicht länger gebeugt und niedergeschlagen.

Wenn wir vom Glauben eine Hilfe erwarten, dann wohl die, dass er uns befähigt und stärkt, dass er uns unsere Schatten und Schwächen vergessen lässt. Aber sind wirklich unsere Schwachheit und unser Angewiesensein unser Problem – oder nicht vielmehr die Art, wie wir damit umgehen? Sind wir das, was wir geworden sind, wirklich nur durch Bestätigung und Erfolg geworden?

Schwerwiegende Entscheidungen fallen selten in leichten Zeiten und tief gehende Veränderungen entstehen nicht durch oberflächliche Erfahrungen. Verständnis für die Schwachheit anderer erwächst nicht aus der eigenen Stärke. Wie man andere Menschen tröstet, wissen wir erst, wenn wir nicht nur getrost, sondern auch selbst getröstet sind (2. Kor 1,3f.). Warum also sehnen wir uns so sehr nach einem lichten und unbeschwerten Leben, wenn das, was uns so wertvoll macht, in einem verletzlichen und tiefgründigen, in einem lebendig gelebten Leben liegt?

Als der Apostel Paulus seinen Herrn nachdrücklich darum bittet, ihn von einer

schmerzhaften – wohl gesundheitlichen – Einschränkung zu befreien, erhält er von ihm eine so überraschende wie entlastende Antwort: »Meine Gnade reicht für dich aus, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig!« Nicht etwa mit seiner Schwachheit soll sich Paulus begnügen, sondern mit der überfließenden Gnade, die ihn mit all seiner Schwachheit wie ein Strom kraftvoll umgibt. Nicht seine Schattenseiten soll er annehmen, sondern das strahlende Licht der Zuwendung Gottes, das ihn samt seinem Schatten erhellt und ihn in Wärme umschließt. Nicht seine Grenzen soll er akzeptieren, die sich wie eine dunkle Wand vor ihm aufbauen können, sondern die unbegrenzte Liebe Christi, die auch die finstersten Aussichten durchbricht.

Paulus selbst folgert: »So will ich mich nun sehr gerne umso mehr meiner Schwachheit ›rühmen‹, damit die Kraft Christi bei mir wohne. Deshalb bin ich zufrieden und bejahe meine Schwachheiten …; denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark« (2. Kor 12,9 f.).

Für die Liebe ist nämlich nicht die Schwachheit des anderen eine Einschränkung, sondern nur die Verleugnung des eigenen Angewiesenseins. Für die Gnade ist nicht die Bedürftigkeit des Gegenübers ein Problem, sondern erst deren Bestreitung. Mag dem Geliebten auch eine eigene Schwachheit wie ein »Dorn im Fleisch« schmerzen, so wird er doch nicht nur trotz, sondern mit all seinen Schwachheiten geliebt. Denn eine unbedingte Liebe gilt nicht nur den Stärken und Leistungen des Gegenübers, sondern ihm selbst mit all seinen Schwächen

und Fähigkeiten. Nicht einmal die Schuld muss der Gnade im Wege stehen, denn die Gnade ist bereit zu vergeben und zu versöhnen. Hinderlich ist eher die Weigerung, das Geschenk der Vergebung anzunehmen.

Wir erwarten von unserem Glauben, dass er wächst und uns stark werden lässt. Dabei liegt die Stärke des Glaubens gerade da-rin, dass er uns zunehmend mit unserer eigenen Schwachheit versöhnt und uns die Kraft unseres Gottes und die Größe seiner Liebe überwältigend vor Augen stellt. Denn in der Beziehung geht es nicht um die eigene Stärke und Leistung, sondern um uns selbst! Wenn wir erkennen, dass Christus nicht nur durch unsere Fähigkeiten und Gaben, sondern durch uns – in unserem Angewiesensein auf Liebe – wirken will, erfahren wir eine ganz neue Stärke, die nirgends eindeutiger zu greifen ist als in unserer Schwachheit.

Dabei ist die Kraft dieser Liebe nicht etwa nur in der Schwachheit der Geliebten mächtig, sondern zugleich auch durch sie. Ein wirklich starker Glaube zeigt sich nämlich nicht am kraftvollen und selbstbewussten Auftreten, sondern in der Fähigkeit, sich anderen Schwachen zuzuwenden, ohne sie zu erniedrigen, auf Fragende einzugehen, ohne sie zu belehren, Zweifelnde zu begleiten, ohne ihnen die eigenen Lösungen aufzuzwingen, Hilflosen so zu helfen, dass sie nicht noch hilfloser werden, Unsichere zu ermutigen, ohne ihnen ihre eigene Verantwortung abzunehmen. Kurzum, die Stärke des Glaubens erweist sich in der Fähigkeit, mit der Schwachheit anderer verantwortlich und liebevoll umzugehen.

Für eine solch voraussetzungslose Annahme und bedingungslose Liebe steht das Kreuz, das seine Stärke gerade in der selbstlosen Zuwendung und Hingabe erweist. Denn es hat Gott in seiner Stärke und Kraft gefallen, in Jesus Christus Mensch zu werden und vom Himmel auf die Erde zu kommen. Er nahm teil an dem, was wir sind, damit wir in seiner Gemeinschaft teilhaben können an dem, was er ist. Er wurde sterblich, damit wir in ihm erfüllendes und bleibendes Leben finden. Er wurde arm und schwach, damit wir durch seine Armut reich und durch seine Schwachheit stark würden. Damit aber hat er durch sein Leben und Wirken, durch sein Kreuz und seine Auferstehung die Gegensätze versöhnt, das Trennende überwunden und Schwachheit und Tod besiegt.

Was bedeutet es dann also zu glauben, Stärke oder Schwachheit, Freude oder Traurigkeit, Gewinn oder Verlust, Glücklichsein oder Leiden? Beides – und das Erste mitten im Zweiten.

Aus „Du bist ein Wunsch, den Gott sich selbst erfüllt hat“, SCM Hänssler, S. 106ff. Abdruck mit freundlicher Erlaubnis des Autors.