Ausgabe Juni / Juli / August 2020 – Alexander Pauli, Hersbruck

Wer immer wieder einen Friseur aufsucht, sich beizeiten die Finger- und Fußnägel schneidet und sich regelmäßig rasiert, hat verstanden: Pflegen heißt wegschneiden. Mit dieser wichtigen Einsicht werden wir jedoch nicht geboren. Beim ersten Friseurbesuch wurden schon manche Tränen geweint – aus Angst Haareschneiden könnte wehtun. Bis aus Nägelschneiden ein eigenes Bedürfnis wird, vergehen mitunter Jahre. Bis sich ein Mensch rasieren muss, hat es bei den meisten schon geschnackelt. Und doch ist „Pflegen heißt wegschneiden“ oder allgemeiner „weniger ist mehr“ ein Prinzip, das wir in Bezug auf verschiedene Lebensbereiche immer wieder neu lernen müssen. Die Gleichung „mehr ist mehr“ klingt einleuchtender. Zu reduzieren konfrontiert viele von uns mit Verlustängsten. Worin liegt bitte schön der Gewinn, etwas zu verlieren? Was gegensätzlich scheint, ist in Wirklichkeit oft einfach stimmig. Bei genauerem Hinsehen lassen sich viele Beispiele sammeln. Gewisse Ausdrucksweisen abzulegen führt zu einer schöneren, gepflegteren oft sogar reicheren Sprache. Zu teilen vermehrt Freundschaft. Ballast abwerfen gibt Auftrieb. Loslassen verhilft zu Freiheit. Verzicht bewirkt Wertschätzung.

Diesen Text verfasse ich inmitten der Coronakrise und der Fastenzeit. Begegnungen mit Familie, Glaubensgeschwistern und Freunden sind extrem reduziert. Ein Fasten, das sich keiner von uns selbst auferlegt hat. Und doch erwächst daraus eine Hochachtung von Dingen, die zuvor alltäglich waren. Sich treffen können, miteinander reden ohne technische Hilfsmittel, gehen zu können, wohin ich will. All das wird neu wertgeschätzt. Den verlorenen Freiheiten trauere ich nicht einfach nur hinterher, sondern werde zum Entdecker neuer Möglichkeiten, Formen, Fähigkeiten und Freiheiten. Reduktion an einer Stelle bewirkt Entfaltung an einer anderen. Da werden ungeahnte Energien freigesetzt, ein Drang zu probieren, zu wagen, zu gewinnen. Wozu uns eine Krise zwingt, können wir aber auch gezielt und willentlich tun, um manche Krise abzuwenden und Frucht hervorzubringen.

Wenn ich schon diese Formulierung verwende, dann möchte ich auch gleich auf das ursprünglichste und göttliche Verständnis dieses Prinzips kommen: „Pflegen heißt wegschneiden“. In Johannes 15,1-2 stellt uns Jesus Gott den Vater als Weinbauer vor: 1 »Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater ist der Weinbauer. 2 Jede Rebe an mir, die nicht Frucht trägt, schneidet er ab; eine Rebe aber, die Frucht trägt, schneidet er zurück; so reinigt er sie, damit sie noch mehr Frucht hervorbringt. (NGÜ)

Selbst Gott kultiviert, indem er wegschneidet und stutzt. Auch sein Ziel besteht darin, Frucht zu vermehren. Um das zu gewährleisten greift er in das wilde Wachstum ein. Gott lässt also nicht einfach alles draufloswachsen, sondern er trifft Entscheidungen. Entscheidungen, die nicht rückgängig zu machen sind. Ein abgezwickter Zweig ist ab und bleibt ab. Auf genau diese Weise kümmert sich der Weinbauer. Es ist zum Wohl der Pflanze, zur Freude des Betrachters und zum Nutzen dessen, der die Frucht genießt oder davon lebt. Auch unsere Gemeinschaften können wir nur dann wirklich pflegen, wenn wir gelegentlich an den richtigen Stellen zurückschneiden. Das ist eine Aufgabe mit viel Verantwortung, die darum auch Mut kostet. Die Entscheidung zu treffen, bestimmte Zweige unseres Gemeinschaftslebens zu stutzen ist ja auch ein Eingriff in Liebgewonnenes bestimmter Personen. Viele Menschen fühlen sich dann besonders wohl, wenn sie sich auf bekanntem Terrain bewegen, Überraschungen selten sind und von ihnen nichts Neues erwartet wird. Diese Bedürfnisse sind nicht grundsätzlich von Übel. Alles hat seine Zeit. Schwierig wird es da, wo das Wohlfühlen und sich sicher fühlen immer und überall seine Zeit haben soll und das Wagnis, der Aufbruch, die Chance auf neue Frucht nie. Gemeinschaft zu kultivieren, um Frucht hervorzubringen fordert uns dazu heraus in den Wildwuchs des Gegebenen einzugreifen, Entscheidungen zu treffen und Kraftraubendes zu kürzen oder ganz abzuschneiden, damit neue Triebe sprießen können und mehr Frucht entsteht.

Für unsere LKG in Hersbruck stehen da nun bald ganz konkrete Entscheidungen an. Wir haben uns vor längerer Zeit bewusst auf den Weg einer Neubelebung gewagt. Gestartet sind wir mit der Erkenntnis, dass einiges, was früher viel Frucht getragen hat, heute nur noch wenig bringt, mitunter aber dieselben Kräfte zieht. Wir haben erkannt, dass Neues (im wahrsten Sinn) notwendig ist, uns aber die Kapazitäten fehlen, Neues hervorzubringen, wenn wir gleichzeitig alles am Leben erhalten, was etabliert ist. Wir haben uns lange Zeit genommen, um miteinander zu beten, Gott in den Ohren zu liegen und wachen Auges nach passenden und hoffnungsvollen Möglichkeiten zu suchen. Inzwischen haben wir konkrete Perspektiven und ein ermutigendes Maß an Einverständnis und Wagemut. Richtig herausfordernd wird es jetzt, miteinander zu beraten, wo wir konkret kürzen, um Konzentration auf das Wesentliche und Neue zu ermöglichen und Wachstum zu fördern.